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Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

Begründung für die Einrichtung dieses Phänomenbereichs

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden haben die Aufgabe, Bestrebungen, die gegen die Sicherheit des Bundes oder der Länder oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik gerichtet sind, aufzuklären und als „Frühwarnsystem“ auch vor neuen Entwicklungen in diesem Zusammenhang zu warnen. Dementsprechend wurde im April 2021 der Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ mit dem zugeordneten Beobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eingerichtet.

Hintergrund dieses Schrittes war die Feststellung, dass eine Zuordnung von im Rahmen des CoronaProtestgeschehens neu aufgekommenen extremistischen Personenzusammenschlüssen oder Einzelpersonen zu bereits bestehenden Beobachtungsobjekten und Phänomenbereichen nicht immer möglich war. Es handelte sich insoweit um eine neue Ausprägung des politischen Extremismus, der während der damaligen Proteste erstmals auffiel.

Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es aber gerade nicht, alle Teilnehmer und Organisatoren von Protestveranstaltungen zu erfassen. Friedlicher Protest und freie Meinungsäußerungen sind vom Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes explizit nicht umfasst. Die Herausforderung für die Verfassungsschutzbehörden liegt demzufolge darin, den hohen verfassungsrechtlichen Rang der Meinungsfreiheit zu achten sowie gleichzeitig gezielt und restriktiv einzig und allein den Extremismus im Protestgeschehen zu detektieren und dementsprechende Bestrebungen in ihrer Rolle als „Frühwarnsystem“ zu beobachten.

 

Kriterien für eine Qualifizierung als Delegitimierung

Kennzeichnend für das Sammel-Beobachtungsobjekt Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates ist der Rückgriff auf diverse Verschwörungserzählungen sowie die grundsätzliche Ablehnung von demokratischen Entscheidungsfindungsmechanismen. Exemplarisch wird u. a. Regierungsverantwortlichen und staatlichen Institutionen pauschal und diffamierend unterstellt, sie missbrauchten gesellschaftliche Rahmenbedingungen – wie die Corona-Pandemie –, um die Bürger zu entrechten und / oder eine Diktatur zu etablieren.

Relevant im Sinne des Phänomenbereiches sind Agitationen, die den Staat massiv verächtlich machen mit dem Ziel, das Vertrauen der Bevölkerung in die demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit des Staates von Grund auf zu erschüttern. In diesem Sinne beabsichtigen sog. „Delegitimierer“ in ihrer Agitation eben keine kritische und sachliche Auseinandersetzung im Rahmen des demokratisch legitimierten Meinungsdiskurses. Stattdessen zielen sie ganz bewusst darauf ab, die Bevölkerung in Bezug auf politische Entscheidungen zu verunsichern und ihr Misstrauen in die Funktionsweise staatlicher Institutionen zu schüren. Die Abgrenzung gegenüber einer legitimen Meinungsäußerung ergibt sich bei sog. „Delegitimierern“ demnach vor allem aus dem Ziel, das sie mit ihrer hervorgebrachten Kritik verfolgen. Ebenso verfassungsschutzrelevant ist aber auch die Rhetorik, die diese Extremisten beispielsweise in ihren Reden anwenden, um ihren verfassungsfeindlichen Zielen öffentlichkeitswirksam Nachdruck zu verleihen.

Mit Blick auf den hohen Stellenwert der freien Meinungsäußerung in einer Demokratie ist dabei eine Verfassungsschutzrelevanz bei bloßer Schmähkritik nicht gegeben, da diese zumindest im Kern immer noch auf eine Auseinandersetzung in der Sache abzielt und von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Die Verächtlichmachung muss vielmehr so massiv sein, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Kernelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung insgesamt und nachhaltig erschüttert werden kann. Anknüpfungspunkte für eine solche Erheblichkeit können beispielsweise sein:

  • Der Rekurs auf ein vermeintliches „Widerstandsrecht“, mit dem bewusst die Hemmschwelle Dritter abgesenkt und tatsächlich nicht legitimierte Widerstandshandlungen dieser Dritten befördert werden sollen.
  • Der Aufruf zu Blockade- und Sabotageaktionen gegen staatliche Einrichtungen oder gegen lebenswichtige Infrastruktur- und Versorgungseinrichtungen (z. B. Anschläge auf Impfzentren während der Corona-Pandemie).
  • Gewaltandrohungen und der Aufruf zu Gewalt gegen Funktions-, Amts- und Mandatsträger.
  • Der Rückgriff auf Verschwörungsnarrative ist ebenfalls ein gewichtiges Indiz für die Erheblichkeit der Verleumdung oder Delegitimierung.

In Abgrenzung zu Rechtsextremisten oder Reichsbürgern und Selbstverwaltern ist bei Akteuren der „Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ grundsätzlich kein ideologischer Hintergrund feststellbar, der den bisherigen etablierten Phänomenbereichen zugeschrieben werden kann. Ihre Agitation zielt einzig und allein auf die Überwindung der gegenwärtigen staatlichen Ordnung ab. Eine Fixierung auf die eigene ethnokulturelle Identität ist bei diesen Akteuren ebenfalls nicht festzustellen.

Das LfV Sachsen analysiert im Hinblick auf diesen neuen Phänomenbereich fortwährend jeden Einzelfall und prüft, ob tatsächliche Anhaltspunkte für eine Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates vorliegen.

Gegenwärtig werden diesem Beobachtungsobjekt in Sachsen etwas mehr als 200 Personen zugeordnet. Diese sind entweder einem konkreten Personenzusammenschluss zuzuordnen oder erfüllen als Einzelperson die Kriterien für eine Zuordnung. Es war ein Anstieg des Personenpotenzials gegenüber dem Vorjahr zu beobachten.

Noch immer spielen Internetaktivitäten auf Messenger-Diensten, wie insbesondere auf Telegram, eine wichtige Rolle. So fallen beispielsweise Einzelpersonen in diesen Phänomenbereich, die auf diesen Plattformen offen zu Angriffen auf Politiker oder zum gewaltorientierten Systemsturz aufrufen. Wieder andere versuchen, Amts- und Mandatsträgern per Direktnachricht mit unmittelbarer Gewalt zu drohen und dadurch in Angst zu versetzen bzw. zu beeinträchtigen. Es haben sich bei Einzelpersonen demnach gewisse Fallgruppen gebildet, welche die verschiedenen Agitationsformen des Delegitimierungsextremismus in der Realwelt und auch in der virtuellen Welt widerspiegeln.

Im Berichtszeitraum konnte eine zunehmende inhaltliche Verfestigung und Radikalisierung innerhalb der Szene festgestellt werden. Es wurde deutlich, dass einzelne Akteure ihre während der Corona-Pandemie begonnene Agitation gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht mehr nur von einem einzigen Thema abhängig machen. Stattdessen suchten sie mit dem Auslaufen sämtlicher Corona-Maßnahmen gezielt nach neuen Themen mit gesellschaftlichem „Empörungspotenzial“, um weiterhin als relevanter Akteur im andauernden Protestgeschehen im Freistaat Sachsen mitzuwirken. Sie entwickelten demzufolge eine grundlegende Systemablehnung, ohne jedoch selbst eine Systemalternative aufzuzeigen. Dabei benutzen sie entsprechende Themen, um mit ihrer verfassungsfeindlichen Agenda möglichst weit in die gesellschaftliche Mitte vorzudringen. Einfallstore für entsprechende Verschwörungsnarrative waren im Berichtsjahr neben Corona u. a. die Themen Migration, Energie, Inflation und der Ukraine-Krieg. In diesem Zusammenhang zielten sog. „Delegitimierer“ bewusst darauf ab, ihre Anhänger davon zu überzeugen, dass der angebliche „Unrechtsstaat“ selbst das Problem sei und seine politischen Entscheidungsträger gegen die eigene Bevölkerung gerichtete Intentionen verfolgten. Gepaart mit der Tatsache, dass sog. „Delegitimierer“ und ihre Anhänger ihre Nachrichten vornehmlich aus alternativen Medien beziehen, entfaltete sich in den vergangenen Jahren eine aus ihrer Sicht notwendige „Widerstandsbewegung“. Die ihr innewohnende Dynamik ließ sich im Berichtsjahr Woche für Woche im Freistaat Sachsen beobachten. Auf diese Weise konnte sich bei ihnen die Annahme verfestigen, in einer Diktatur zu leben, gegen die Widerstand legitim und notwendig sei. In der Folge wurden ihre Forderungen nach der Abschaffung des Systems immer deutlicher verfassungsschutzrelevant.

Eine zentrale ideologische Gemeinsamkeit der „Delegitimierer“ ist noch immer das Rekurrieren auf Verschwörungserzählungen als Zentrum ihrer inhaltlichen Ausrichtung. Hier ist insbesondere die Verschwörungstheorie des „Great Reset“ zu erwähnen. Mit diesem Narrativ wird behauptet, dass eine „globale Elite“ in Politik und Wirtschaft infolge der Corona-Pandemie eine globalisierte Diktatur anstrebe. Ursprünglich stammt die Formulierung „Great Reset“ von einer Initiative des Weltwirtschaftsforums, die insbesondere auf ökonomische Reformen für mehr Nachhaltigkeit und soziale Partizipation setzt. Daran knüpft die Verschwörungstheorie der „Plandemie“ an, die wiederum die Corona-Impfungen mit dieser Verschwörungstheorie verbindet. Demnach sei die Corona-Pandemie eine von „globalen Eliten“ geplante Inszenierung gewesen mit dem Ziel, die Bevölkerung durch die Nebenwirkungen der Corona-Impfungen vorsätzlich zu dezimieren. Aus diesem Grunde fordern „Delegitimierer“ bis heute die politische Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen sowie die strafrechtliche Verfolgung und „Bestrafung“ der für diese Maßnahmen verantwortlichen politischen Entscheidungsträger. Abgesehen davon zeichnen sie sich durch eine thematische Heterogenität aus, mit der sie jeweils die Delegitimierung des Staates herleiten.
Diese Verfassungsfeinde lassen keine geeinte positive Idee für einen ihrer Lesart zufolge „demokratischen Staat“ erkennen. Ihr Ziel ist die Überwindung des gegenwärtigen Systems. Nur dann könne wieder Politik für „das Volk“ gemacht werden und „Menschlichkeit“, „echte Freiheit“, „Frieden“ und „Selbstbestimmung“ wieder Einzug in die Gesellschaft halten. Jedoch unterlassen „Delegitimierer“ es zumeist, diese Zielvorstellungen mit konkreten Inhalten auszufüllen.

Im Berichtsjahr auffällig war die zunehmende Annäherung der Phänomenbereiche Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter und „Verfassungs-schutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Es war zu beobachten, dass deren jeweilige ideologische Ausrichtung eher in den Hintergrund rückte zugunsten des gemeinsamen Ziels: den Sturz des gegenwärtigen politischen Systems herbeiführen zu wollen. Insofern konnte ein „Schulterschluss“ verschiedener extremistischer Akteure im Protestgeschehen des Freistaates Sachsen festgestellt werden, wobei der Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein ganz entscheidendes Bindeglied darstellte.

Die Strategien der dem Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ zugeordneten Akteure wurden im Berichtszeitraum evidenter. Durch das Abklingen der CoronaPandemie als alles überschattendes Thema waren die „Delegitimierer“ gezwungen, sich strategisch neu zu erfinden. In der Folge stellten sie sich vor allem inhaltlich breiter auf, um weiterhin vom anhaltenden Protestgeschehen profitieren zu können. Sie argumentieren, dass Corona nur die ohnehin „faschistischen“ und „korrupten“ Strukturen des Staates offengelegt habe, diese offenkundige Tatsache sich auch bei allen anderen Themen widerspiegle und es deshalb unverändert legitim sei, gegen diesen Staat zu demonstrieren. Durch die Äußerung unkonkreter Ziele geben sich die Akteure nach außen hin oft ein zunächst unverfängliches Antlitz. Damit soll unzufriedenen Bürgern der Einstieg in die Szene so einfach wie möglich gemacht werden.
Dies hat zudem den Effekt, dass sich die Protagonisten selbst als „Freiheitskämpfer“ oder „Friedensbotschafter“ initiieren können. Dahinter steht regelmäßig die These, als „Revolutionäre“ ein angeblich „diktatorisches“ und „korruptes“ Regime stürzen zu wollen. Dabei werden oft Vergleiche zur Friedlichen Revolution von 1989 gezogen. Zudem wird an den „Freiheitsdrang“ der Protestierenden appelliert, die mitunter bereits mithilfe von Montagsdemonstrationen in der Endphase der damaligen DDR eine Diktatur gestürzt hätten. Gegenwärtig sei eine erneute „Revolution“ erforderlich, mit der man gemeinsam erneut zu etwas Historischem beitragen könne.

Die Aktivitäten der sog. „Delegitimierer“ wurden im Berichtszeitraum vielfältiger und intensiver. Die klassischen, sich zur festen Routine entwickelten Montagsdemonstrationen bildeten dabei die Basis und haben eine nicht zu unterschätzende Gruppendynamik entfaltet.

Als hervorzuhebende Großveranstaltungen der Szene im Berichtszeitraum gelten die vom Extremisten Marcus FUCHS veranstalteten Demonstrationen. Der „Tag für Frieden und Freiheit“ wurde am 17. Juni mit ca. 2.350 Teilnehmern in Dresden durchgeführt. Die zweite derartige Veranstaltung zog am 28. Oktober ca. 2.100 Teilnehmer auf den Theaterplatz in der Landeshauptstadt. Mit diesen Großveranstaltungen gelang es FUCHS und seinen Unterstützern, die bundesweit vernetzte „Delegitimierer“-Szene wirkungsvoll an einem Ort zu vereinen. Bekannte „Szenegrößen“ äußerten sich dabei u. a. wie folgt:

„In einem solchen Staat, in diesem Staat, in dieser Berliner Republik sind die geschriebenen Ideale unseres Grundgesetzes nichts Anderes mehr als eine Farce. Die Wahrheit dieses Staates, die Wahrheit dieser Berliner Republik, sie ist so klar zu sehen, wie sie zu riechen ist. Sie liegt als Leichengestank in der Luft! Diese Berliner Republik ist tot!“

Zudem fiel bei beiden Großveranstaltungen die nahezu selbstverständlich gewordene Kooperation mit Rechtsextremisten auf. So blieb eine Distanzierung von den offen auftretenden Freien Sachsen bis zum Ende des Berichtszeitraumes aus, womit bilanzierend ein ausgeprägtes Miteinander von Rechtsextremisten und bekannten „Delegitimierern“ konstatiert werden konnte.

Eine neue Entwicklung im Berichtszeitraum war die Durchführung von Filmabenden. Dabei wurde der Film „Plötzlich & unerwartet“ gezeigt. Es handelt sich dabei um die deutsche Fassung des Originalfilms „Died Suddenly“. Der Film greift die Folgen der Corona-Impfungen und den angeblich dahinterstehenden „Great Reset“ auf. Damit sollen die Zuschauer in Angst versetzt und von dieser Verschwörungstheorie überzeugt werden.

Darüber hinaus spielte im Berichtsjahr auch die Musik eine Rolle. Während der Montagsproteste wurden beispielsweise regelmäßig Lieder einschlägiger Szenegrößen, wie etwa von Björn WINTER („Björn Banane“) gespielt – teilweise sogar live. Außerdem gab dieser zwei Konzerte in einem privaten Szeneobjekt. Zwei weitere Konzerte konnten dort verhindert werden.

Derartige Szenetreffen sollen das Gemeinschaftsgefühl stärken und auf die verfassungsfeindliche Ideologie bzw. das gemeinsame Feindbild einschwören.

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