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AUTONOME

Für Autonome ist Gewaltausübung zur Durchsetzung politischer Ziele und als Symbolhandeln zentral. Gewaltbereitschaft ist ein identitätsstiftender und prägender Bestandteil der Autonomen Szene. Straftaten werden in Strategiepapieren und Diskussionen gerechtfertigt. Durch ihre Gewaltgeneigtheit unterscheiden sich die Autonomen von anderen Linksextremisten.

Autonome sehen sich zum einen als Opfer von Gewalt sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten des politischen Gegners. Insofern halten sie ihre eigene Gewaltausübung gegen Sachen und Personen für legitim. Zum anderen gibt es aus ihrer Sicht bestimmte politische Anliegen, die den Einsatz von Gewalt generell rechtfertigen. Prägend für die Autonome Szene sind unterschiedliche Auffassungen über die Bestimmung der Ziele und die Angemessenheit der gewaltsamen Mittel, die in wiederkehrenden „Militanzdebatten“ sichtbar werden.

Ereignisgeschehen zum „Tag X“ im Nachgang des Prozesses gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte

Im Berichtsjahr hatte das Ende des am 8. September 2021 vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichtes Dresden (OLG Dresden) begonnenen erstinstanzlichen Strafprozesses gegen Lina E. und drei weitere Angeklagte für die bundesweite linksextremistische Szene eine herausragende Bedeutung. Das Strafverfahren gegen vier Angeklagte, denen mitgliedschaftliche Beteiligung an einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung sowie die damit verbundene Begehung mehrerer gefährlicher Körperverletzungen und weiterer Straftaten zur Last gelegt wird, endete am 31. Mai des Berichtsjahres mit der Verurteilung aller Angeklagten aufgrund verschiedener Anklagepunkte zu mehrjährigen Haftstrafen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Die bis zur Urteilsverkündung in der JVA Chemnitz inhaftierte Lina E. wurde unter Auflagen entlassen.

Der Prozess wurde bundesweit von der linksextremistischen Szene als Zeichen einer sich verstärkenden „Repression“ des Staates („Verfolgungswelle“) gegen linke Strukturen wahrgenommen. Polizei und Justiz verfolgten demnach eine politische Agenda und würden mit ihren Ermittlungen das Narrativ einer „gefährlichen Linken“ bzw. eines „linken Terrorismus“ heraufbeschwören.

Im Zusammenhang mit dem Prozess bildeten sich in der linksextremistischen Szene Solidaritätsstrukturen. Darüber hinaus fanden in diesem Kontext zahlreiche Demonstrationen, Solidaritätsaktionen und politisch motivierte Straftaten statt. Auf verschiedenen Kanälen in den sozialen Medien, darunter auf der linksextremistischen Onlineplattform de.indymedia.org, mobilisierte die Autonome Szene für Versammlungen in Leipzig am sogenannten „Tag X“, dem Samstag nach der Urteilsverkündung.

Die Prozessbegleitung zur Unterstützung der Angeklagten war bereits für die Dauer des Verfahrens u. a. durch regelmäßige Berichterstattung über die Inhalte der Verhandlung auf der Internetseite „soli-antifa-ost.org“ gewährleistet. Für den Tag der Urteilsverkündung wurde zu einer Kundgebung vor dem OLG Dresden aufgerufen, an der 75 Personen teilnahmen, darunter Linksextremisten. Aus der Versammlung heraus wurden mehrere Banner gezeigt, darunter mit der Aufschrift „Liebe für das Leben heißt Hass auf euren Staat, wir bleiben militant“. Die linksextremistische Gruppe Undogmatische radikale Antifa Dresden (URA Dresden) publizierte auf ihrer Internetseite einen Beitrag, in dem sie sich zum Urteil positionierte: „Das Urteil ist ein Angriff auf antifaschistische Arbeit im Allgemeinen, ein Angriff auf alle Antifaschist*innen […] und ein Türöffner für politische Verfahren gegen alle möglichen missliebigen Aktivist*innen“.
Für den Abend der Urteilsverkündung wurde zudem für eine Demonstration unter dem Motto „Unsere Solidarität gegen staatliche Repression – Antifaschismus lässt sich nicht verbieten“ in die Dresdner Innenstadt mobilisiert. An der Veranstaltung nahmen ca. 450 Personen teil, darunter etwa 70 Personen, welche sich größtenteils in einem schwarzen Block hinter Regenschirmen und Transparenten verbargen. Aus diesem Aufzugsteil heraus wurde mehrfach Pyrotechnik gezündet. Im Alaunpark in der Dresdner Neustadt wurde vor der Abschlusskundgebung ein Böller auf die eingesetzten Polizeikräfte geworfen. Die Transparente der Gruppierung URA Dresden zeigten Aufschriften wie „Solidarity forever! Freiheit für alle Antifas“.

In Leipzig versammelten sich am gleichen Abend etwa 800 überwiegend schwarz gekleidete Personen, um unter dem Motto „Free them all“ zu demonstrieren. Die Teilnehmer, darunter etwa 500 Autonome, zeigten ein Fronttransparent mit der Aufschrift „Free All Antifas – Soko LinX und VS Auflösen – Defund the Police“ und skandierten u. a. „Hass, Hass, Hass wie noch nie“, „All Cops are Targets ACAT“ und „Gib dem Bullen was er braucht – 9 mm in den Bauch“. Nach Kundgebungsende gruppierten sich die Versammlungsteilnehmer im Lene-Voigt-Park und brannten mehrfach Pyrotechnik ab. Sie bewarfen Polizeikräfte massiv mit Flaschen, Steinen und Pyrotechnik. Abschließend wurden ein Container und ein Pkw in Brand gesetzt.

In Leipzig nahmen an der Demonstration „Tag der Jugend“ ca. 170 Personen, darunter Linksextremisten, teil. Es wurde Pyrotechnik gezündet und Rufe wie „Mörder“, „Bullenschweine“, „Tod und Hass der Soko LinX“ und „Gebt dem Bullen was er braucht, 9 mm in den Bauch“ aus der Versammlung heraus skandiert. Im Verlauf der Veranstaltung wurden mehrere Strafanzeigen, u. a. wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, gestellt. Die linksextremistischen Gruppierungen Rotes Dresden und Jugend im Kampf beteiligten sich mit Transparenten, erstere mit der Aufschrift „Krieg den deutschen Zuständen“ und letztere mit „Für eine revolutionäre Jugendbewegung – Für eine Jugend im Kampf“.

Zu einer nicht angezeigten Versammlung unter dem Motto „Gegen Demoverbote – Für die Freiheit aller verfolgten Antifaschist*innen und einen Solidarischen Kiez“ gruppierten sich ca. 750 Personen, darunter Linksextremisten, in Leipzig-Connewitz. Der Großteil der Personen führte diverse Wurfgegenstände (Pflastersteine, etc.) mit. In den Nachtstunden wurden im Bereich des Connewitzer Kreuzes immer wieder Barrikaden errichtet und entzündet sowie Mülltonnen und Verkehrseinrichtungen in Brand gesetzt. Einsatzkräfte und Fahrzeuge der Polizei waren einem massiven Bewurf ausgesetzt, außerdem wurde ein Laserpointer gegen den Piloten eines Polizeihubschraubers eingesetzt.

Für das Ereignisgeschehen „Tag X“ hatte die Stadt Leipzig Versammlungen mit direktem Bezug zum Prozess verboten. In der Leipziger Südvorstadt sammelten sich am 3. Juni zur angemeldeten Versammlung „Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig“ über 1.500 Personen, darunter mehrere Hundert Linksextremisten.106 Aufgrund von Angriffen gegen Polizeibeamte durch Bewurf mit Steinen und Pyrotechnik wurde die Versammlung durch den Versammlungsleiter vorzeitig beendet. In der Folge wurden kontinuierlich weitere Straftaten verübt, indem die polizeilichen Einsatzkräfte und Dienstfahrzeuge mittels eines Brandsatzes, Pyrotechnik und Steinen beworfen wurden. Am Abend wurde gegen die an den gewalttätigen Ausschreitungen mutmaßlich beteiligten Personen ein Ermittlungsverfahren u. a. wegen des Anfangsverdachts des Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall eingeleitet. Zu diesem Zweck wurde durch den vor Ort anwesenden Staatsanwalt die Identitätsfeststellung von über 1.300 Personen angeordnet.

Die linksextremistische Szene reflektierte das Ereignisgeschehen im Nachgang. Seither wurde mehrfach bei Veranstaltungen und in Internetpublikationen auf die Folgen der staatlichen Maßnahmen an diesem Tag eingegangen. Am 4. und 5. Juni wurde der diesbezügliche Protest bei Veranstaltungen in Leipzig deutlich. Der linksextremistische Rote Hilfe e. V. beschäftigte sich damit, den von der „staatlichen Repression“ betroffenen Personen (Identitätsfeststellungen, Inhaftierungen) Rechtsbeistände zu vermitteln und die konfiszierten Telefone zurückzuerhalten. Im Juli, September und Oktober wurden öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen zur moralischen und finanziellen Unterstützung der Betroffenen unter Beteiligung von Linksextremisten in Leipzig fortgesetzt.

Ereignisgeschehen anlässlich von Körperverletzungsdelikten am „Tag der Ehre“ in Budapest (Ungarn)

Vom 9. bis 11. Februar kam es in Budapest abseits der für europäische Rechtsextremisten relevanten Versammlungslage „Tag der Ehre“ zu mehreren mutmaßlich linksextremistisch motivierten Körperverletzungsdelikten zum Nachteil vermeintlicher Veranstaltungsteilnehmer.

Bei einem Großteil der identifizierten Tatverdächtigen handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, welche sich seither der Feststellung durch Sicherheitsbehörden zu entziehen versuchten. Dennoch mündeten die polizeilichen Ermittlungen in der Festnahme mehrerer Tatverdächtiger. Am 11. Dezember wurde in Deutschland ein Haftbefehl gegen einen der Tatverdächtigen vollstreckt und dessen Untersuchungshaft in der JVA Dresden angeordnet. Am 14. Dezember wurde unter Beteiligung von Linksextremisten eine Kundgebung vor der JVA Dresden anlässlich des Geburtstages des Inhaftierten veranstaltet.

Die linksextremistische Szene kritisierte im Berichtsjahr das polizeiliche Agieren und den ungarischen Staat in diesem Kontext vehement und zeigte sich solidarisch mit den „untergetauchten“ Tatverdächtigen. Rotes Dresden forderte beispielsweise auf der Social-Media-Plattform „X“ (vormals Twitter): „Stoppt den Staatsterror! Solidarität mit allen Untergetauchten!“, während die Ortsgruppe Leipzig der Roten Hilfe in einem Aufruf auf „X“ verdeutlichte: „Wir werden die Jagd der Behörden auf unsere Leute nicht still und heimlich erdulden. Der Antifaschismus ist so notwendig wie eh und je, und er lässt sich nicht verbieten und nicht einsperren!“

Die Autonome Szene ist eine äußerst heterogene Strömung innerhalb des Linksextremismus, der es an einer Organisation mit klaren Strukturen sowie einer einheitlichen ideologischen Basis fehlt. Zersplittert in unzählige Kleingruppen steht das Individuum und seine Selbstverwirklichung im Zentrum autonomer Politik. Weltanschaulich-politisch verfolgt diese Szene keine dogmatische Linie, sondern versteht sich als Fundamentalopposition und Basisbewegung. Ihrem Selbstverständnis entsprechend orientieren sich Autonome an anarchistischen Ideologiefragmenten und wenden sich von diesem Ansatz ausgehend gegen jegliche Form von Herrschaft, Organisation und Hierarchie. Demzufolge lehnen sie die Gewaltenteilung und einen Staat ab, in dem eine demokratisch legitimierte Mehrheit regiert und Minderheitenrechte geachtet werden. Angestrebt wird die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Autonome bekämpfen auch die von ihnen als „kapitalistisch“ bezeichnete Gesellschaftsordnung. Ihnen geht es dabei nicht um eine fundamentale Kapitalismuskritik, sondern vielmehr um eine revolutionäre Überwindung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Ihr Weltbild und ihre Weltanschauung sind in erster Linie von einer destruktiven Anti-Haltung (antistaatlich, antiautoritär) geprägt. Jenseits von Forderungen nach „Selbstbestimmung“ und „herrschaftsfreien Verhältnissen“ verbindet die Autonomen ihre Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols und das Bekenntnis zu „revolutionärer Gewalt“, die überwiegend in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen ausgeübt wird.

Neben den „klassischen“ Autonomen etablierten sich sowohl bundesweit als auch in Sachsen sog. Postautonome. Diese präsentieren sich moderater und streben eine Zusammenarbeit in überregionalen Bündnissen an, denen sowohl andere linksextremistische Organisationen als auch Nichtextremisten angehören können. Bündnisse sollen eine kontinuierlichere politische Arbeit mit dem Ziel der Schaffung einer breiten Massenbasis sicherstellen. Postautonome Gruppen sprechen sich für die Beibehaltung militanter Konzepte aus, legen allerdings Wert auf deren Vermittelbarkeit außerhalb der eigenen Klientel.

Die Autonome Szene dominiert den Linksextremismus im Freistaat Sachsen deutlich. Ihr gehörten im Berichtsjahr ca. 450 Personen an (2022: ca. 520 Personen). Dies entspricht einem Anteil von etwa 50 Prozent an allen linksextremistischen Bestrebungen in Sachsen. Regional und bundesweit bleibt die Autonome Szene Leipzig neben den Szenen in den Städten Berlin und Hamburg ein Schwerpunkt autonomer Aktivitäten. Wesentlich stärker als in der Vergangenheit beruft sich die Szene auf anarchistische Wurzeln, ohne dabei grundlegende autonome Aktionsfelder aufzugeben. Die Grenzen zwischen autonomen und anarchistischen Strömungen verschwimmen zunehmend. Diese Tendenz machte sich vor allem bei Demonstrationen bemerkbar. Dort zeigten sich anstelle von „autonomen Blöcken“ vermehrt „anarchistische Blöcke“, die u. a. mit entsprechenden Transparenten auf sich aufmerksam machten. Durch diese breitere ideologische Basis soll das Fundament für weitreichende regionale, überregionale und internationale Vernetzungen gelegt werden.

Die Stadt Leipzig ist und bleibt ein Schwerpunkt der Autonomen Szene Deutschlands. Diese Szene betrachtet die Begehung schwerster Straftaten weiterhin als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung. Typische Angriffsziele sind nicht nur der Staat und seine Einrichtungen, sondern auch Privatunternehmen und Privatpersonen, die man dem gegnerischen politischen Lager zurechnet. Dabei stellen Angehörige der Polizei, aber auch anderer Sicherheitsbehörden sowie der Justizbehörden als Repräsentanten des verhassten „Unterdrückungsapparates“ ein explizites Feindbild dar. Straf- und Gewalttaten werden häufig als strategisch geplante, klandestine Kleingruppenaktionen durchgeführt.

Die untergetauchten Linksextremisten im „Budapest-Komplex“ hatten vor dem Hintergrund des noch laufenden Prozesses gegen Lina E. und weitere Angeklagte sowie laufender Fahndungsmaßnahmen der Polizei keine Hemmungen, in die ungarische Hauptstadt zu reisen und dort mit äußerster Brutalität gegen politisch Andersdenkende vorzugehen. Dies war im Berichtsjahr ein eindeutiger Beleg für das klandestine, professionelle Vorgehen und die hohe Gewaltbereitschaft der Autonomen Szene. Hierbei erfolgte eine Verlagerung der politischen Auseinandersetzung ins Ausland und die billigende Inkaufnahme von schwersten Körperverletzungen.

Das LfV Sachsen stellte im Berichtsjahr fest, dass die Autonome Szene zunehmend versucht, Aufmerksamkeit mit Themen der Klimaschutzbewegung zu erlangen und diese für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu instrumentalisieren. Die grundsätzlich legitime, nicht extremistische Kapitalismuskritik bietet dafür den entscheidenden Nenner. So sehen Linksextremisten den Kapitalismus als Nährboden für Faschismus und mitunter klimaschädliche Eigentums- und Produktionsverhältnisse, die es zu überwinden gilt. Eine Verfassungsschutzrelevanz ergibt sich, weil die Ablehnung des Wirtschaftssystems mit dem Streben nach der revolutionären Überwindung des demokratischen Rechtsstaates einhergeht.

Insgesamt stagniert die Anzahl Autonomer im Freistaat Sachsen ohne signifikante regionale Veränderungen. Dabei lässt sich feststellen, dass sich die Autonome Szene im Freistaat Sachsen stetig verjüngt. Die Protagonisten sind aber nicht weniger gewaltbereit und risikofreudig, während „ältere“ Autonome zurückhaltender werden. Die Feindbilder sind allerdings die gleichen.

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